Meine Kurzgeschichte innerhalb der von Volker Krischel im Karl-May-Verlag herausgegebenen Anthologie
Old Shatterhand – Neue Abenteuer (Geschichten aus dem Wilden Westen)
Ein Leseschnipsel
Für den Abend hatte Otis zum Essen geladen. Ich verspürte wenig Lust darauf, engstirnige Ansichten des Kommandanten ignorieren zu müssen. Doch weil es der letzte Abend mit den Gefährten sein würde, gab ich mir einen Ruck. Niemand wusste, ob und wann man sich wiedersehen würde. Als ich auf dem Weg hinüber zu den Offiziersquartieren war, traf ich im Gang der Mannschaftsbarracken auf einen hageren Mann mittleren Alters, der offenbar auf mich gewartet hatte.
Er trug den linken Arm in einer Schlinge. Ich nickte ihm grüßend zu, doch erst als ich schon fast an ihm vorbeigegangen war, sprach er mich zögerlich an:
„Good evening, Sir!“
Ich blieb stehen, wandte mich um und erwiderte den Gruß.
„Habt Ihr auf mich gewartet?“, fragte ich.
Der Mann trat von einem Fuß auf den anderen.
„Well, Ihr habt Recht“, stieß er hervor. „Ihr seid Old Shatterhand, wie man mir sagte?“
„Wer will denn das wissen?“
„De Roij, Jeroen de Roij! Ich wäre Euch dankbar, wenn Ihr mir ein paar Minuten Eurer Zeit gönnen könntet.“
Ich sah mir den Mann jetzt genauer an. Seltsam gebeugt stand er da. Die aus robuster Baumwolle, mit Ledereinsätzen an den Innenseiten der Hosen und an den Unterärmeln seiner Jacke, bestehende Kleidung schlotterte an ihm herum. Dennoch schien es sich um die eigene Kleidung des Mannes zu handeln. Er war glattrasiert und hatte sein Haar vor Kurzem gekämmt. Seine Stiefel waren blitzblank. Er war also nicht soeben erst hier angekommen, sondern wohl schon länger hier. War er Gast im Fort oder gehörte er als Zivilist zur Besatzung?
Sein Name war offenbar holländischen Ursprungs. Er war mir auf Anhieb sympathisch. Doch dachte ich, dass es besser sei, ihm erst einmal auf den Zahn zu fühlen. Ich antwortete also auf die vorgetragene Bitte:
„Nun, ich befinde mich auf dem Weg zum Offiziersquartier, um einer Einladung des Kommandanten Folge zu leisten. Ich bin bereits spät dran!“
„Das passt, Mr. Shatterhand!“, antwortete de Roij. „Ich habe das gleiche Ziel. Auch ich bin zu dem Dinner eingeladen. Darf ich mich Euch anschließen?“
„Ganz wie es Euch beliebt, Mijnheer de Roij.“
„Bitte nennt mich einfach Jerry, Mr. Shatterhand. Das halten alle meine Bekannten so. Der holländische Name will den meisten nicht über die Lippen und ich bin mehr Amerikaner als Dutchman. War nie in Old Europe, bin in Chicago zur Welt gekommen. Mein Vater kam aus Delft.“
Ich nickte und machte Geste, er möge mich begleiten. Mir fiel auf, dass er sich anstrengen musste, Schritt zu halten, obwohl ich kein großes Tempo vorlegte. War er wohlmöglich schwerer verletzt, als die Armschlinge vermuten ließ? Das abgezehrte Aussehen und die gekrümmte Haltung deuteten jedenfalls darauf hin.
„Nun Jerry, ich bin bereit, Eurer Bitte nachzukommen und mir anzuhören, was Ihr mir sagen wollt“, sagte ich. „Wir müssen uns dann aber gleich nach dem Dinner unterhalten, da ich morgen in der Frühe bereits abreisen werde. Vielleicht wollt Ihr mir schon jetzt sagen, wo Ihr Euch Eure schweren Verletzungen zugezogen habt?“
Ich hielt ihm die Tür auf, die auf den Paradehof führte. Er sah mich an, während er an mir vorbei nach draußen ging.
„Dachte, man würde es mir nicht mehr gleich anmerken. Aber was wundere ich mich? Dem scharfen Blick eines Old Shatterhand entgeht natürlich nichts.“ Nach ein paar Schritten fuhr er fort: „Ja, Ihr habt Recht. Ich habe Glück, dass ich überhaupt noch am Leben bin. Hätte dieser seltsame Kauz mich nicht gefunden, wäre ich wohl elendig verreckt.“
…